T. Brown u.a. (Hrsg.): Between the Avant-Garde and the Everyday

Cover
Titel
Between the Avant-Garde and the Everyday. Subversive Politics in Europe from 1957 to the Present


Herausgeber
Brown, Timothy; Anton, Lorena
Reihe
Protest, Culture & Society 6
Erschienen
New York 2011: Berghahn Books
Anzahl Seiten
xi, 294 S.
Preis
$ 120.00 / £ 75.00 / € 96,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim C. Häberlen, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin

Studien zu „1968“, den Studentenprotesten und deren Folgen, zunehmend auch in transnationaler Perspektive, füllen mittlerweile viele Regale1, wobei sich gerade im Hinblick auf die 1970er-Jahre der Blick zu weiten beginnt – über den Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) hinaus, der lange die Diskussion bestimmte.2 Der hier zu besprechende Band reiht sich einerseits in solche Studien ein, indem er sich dem Verhältnis zwischen dem „Politischen“ und dem „Persönlichen“ zuwendet und die Subjektivierung des Politischen innerhalb der neuen Linken untersucht. Andererseits erweitert der Band die Perspektive: Erstens konzentriert er sich nicht auf „1968“, sondern untersucht die längere Vorgeschichte dieser Transformation des Politischen, wobei nicht ganz deutlich wird, warum 1957 als Ausgangspunkt gewählt wurde – vermutlich deshalb, weil in diesem Jahr in Italien die Situationistische Internationale gegründet wurde. Zweitens nimmt er sich der Verquickung von Politik und (Sub- beziehungsweise Gegen-)Kultur an und betont insbesondere die Einflüsse der künstlerischen Avantgarde auf die „subversive Politik“.

Allerdings werden die Begriffe „Kultur“ und „Politik“ selbst nicht definiert oder im Sinne einer Historischen Semantik untersucht. Was „Kultur“ und was „Politik“ ist, wird als selbstverständlich vorausgesetzt; einzig eine „Durchmischung“ der beiden Sphären ist denkbar. Hier hätte der Band und insbesondere die Einleitung von Ansätzen einer „Neuen Politikgeschichte“ profitieren können, wie sie etwa Ute Frevert formuliert hat.3 Lediglich die Kategorie des „Subversiven“ wird in der Einleitung kurz umrissen: Sie beziehe sich auf Aktivitäten, die „mainstream politics“ und „dominant narratives“ herausfordern und unterwandern sollten, so Brown und Anton in der Einleitung (S. 2). „Subversiv“ wird somit zu einer analytischen Kategorie über die Grenzen von politischen Systemen hinweg. Thematisch, geographisch und chronologisch decken die 13 Beiträge ein weites Spektrum ab: von der Avantgarde-Gruppe „Spur“ in München, die bereits in den 1950er-Jahren aktiv war (Aufsatz von Mia Lee) und der Gruppe „Sigma“ in den Niederlanden (Niek Pas) bis hin zur Anti-Globalisierungsbewegung (am Beispiel Tschechiens im Hinblick auf Gender-Aspekte untersucht von Marta Kolárová) und der Rolle von „Minimal Techno“ in „Post-Modern Protest“ (diskutiert von Andrew Lison).

Inhaltlich sind die Beiträge gerade für Historiker/innen, deren Blick oftmals noch auf (wenige) nationale Fälle beschränkt ist, überaus informativ, zumal auch kaum bekannte subkulturelle Phänomene und Bewegungen einbezogen werden. So schildert Niek Pas, dass es in Amsterdam bereits 1966 zu erheblichen politischen Unruhen kam, während Samantha M.R. Christiansen auf die englische Terrorgruppe „Angry Brigade“ eingeht, die mehrere (unblutig verlaufene) Bombenanschläge unter anderem auf Symbole der Konsumkultur wie teure Boutiquen verübte. Leider bleiben viele Beiträge eher deskriptiv – so etwa der bereits genannte von Niek Pas, aber auch derjenige des Mitherausgebers Timothy Brown über „Nazi Rock“, welcher sich von England kommend in der Bundesrepublik ausbreitete, oder derjenige von Andrea Pabst zu Körpern in Protestbewegungen. Der Autorin ist sicher zuzustimmen, dass Körper in ihrer physischen Präsenz auf der Straße und wegen der dortigen Verwundbarkeit eine wichtige Rolle spielen, ebenso wie das Tanzen auf der Straße Spaß machen kann. Aber ist das wirklich überraschend und für zeithistorische Analysen weiterführend? Hinzu kommt, dass die von Pabst erwähnten Selbstinterpretationen der Akteure über die von ihr angebotenen Interpretationen hinausweisen. So zitiert sie die italienischen „Tute Bianche“, eine in der Anti-Globalisierungsbewegung Anfang der 2000er-Jahre aktive Gruppe, mit den Worten: „Like in the past workers went to the streets with their working tools such as spanner, sickle and hammer, we go to the streets with our working tools today: body and brain.“ (S. 196) Hier formulieren die Akteure selbst, weshalb die Körperlichkeit ihres Protests so zentral ist: Sie repräsentieren auf diese Weise ihre Arbeitskraft und damit ihre Funktion im Kapitalismus. Pabst dagegen meint hierzu lediglich, Aktivisten würden sich auf die Arbeiterklasse und deren Protestgeschichte beziehen, ohne aber die theoretischen Implikationen dieser Aussage zu erkunden.

Der nach meinem Eindruck interessanteste Aspekt, der in einigen Beiträgen aufscheint, aber kaum ausgeführt wird, betrifft die Politisierung von Gefühlen. Andrea Pabst etwa bemerkt nur kurz: „The question of adrenalin and emotions should not be underestimated in this regard.“ (S. 199) Dass aber Gefühle gerade auch für körperliche Praktiken auf der Straße zentral sind, macht ein von ihr selbst angeführtes Zitat der „Rebel Clown Army“ aus dem Jahr 2005 deutlich: „[A] warrior who is unable to really feel and perceive what is around her/himself will soon end up dead and ineffective. Fearlessness comes from escaping our bodies, forgetting we are made of flesh and blood […]. By working with the body, rebel clown trainings attempt […] to reveal the soft skin again, to find the vulnerable human being who once felt everything deeply.“ (S. 199) Dieses Zitat zeigt, welch zentrale Rolle emotionale Erfahrungen gerade in körperlichen Praktiken einnahmen, ja wie solche Erfahrungen sogar zum Ziel körperlicher Praktiken wurden.

Eine in der Sache ähnlich wichtige, im Text aber nur en passant vorkommende Rolle spielen Emotionen im Aufsatz von Nikolaos Papadogiannis über Identitäten kommunistischer Jugendlicher und Rockmusik. Gegen Ende der 1970er-Jahre etwa begann die kommunistische Jugendgruppe „Rigas Feraios“ das Thema Einsamkeit in ihren Texten anzusprechen. Rockmusik sollte dabei helfen, diese Einsamkeit zu überwinden. Körper wurden nun als Quelle von Freude angesehen und dienten nicht mehr als „Opfer“ für eine zukünftige sozialistische Gesellschaft. In dieser Betonung emotionalen Leidens (Einsamkeit) und emotionaler Erfüllung (Freuden) lag ein fundamentaler Bruch mit der alten kommunistischen Ideologie. Das Hören von Rockmusik gewann dabei, wie Papadogiannis überzeugend ausführt, eine zentrale Bedeutung.

Schließlich nahmen Gefühle, in diesem Falle Langeweile, auch einen zentralen Platz in der Rhetorik der englischen „Angry Brigade“ ein. Zur Erklärung für einen Anschlag auf die Modeboutique Biba, die für ihre „alternativen“ Moden bekannt war, schrieb die Brigade 1971: „Life is so boring there is nothing to do except spend all our wages on the latest skirt or shirt. Brothers and Sisters, what are your real desires? Sit in the drugstore, look distant, empty, bored, drinking some tasteless coffee? Or perhaps BLOW IT UP OR BURN IT DOWN.“ (zit. bei Samantha Christiansen, S. 53) Bereits in der Einleitung verweisen Timothy Brown und Lorena Anton auf diese Zeilen, sehen in ihnen jedoch lediglich eine Kritik an „lifestyle issues“. Die in dem Zitat zum Ausdruck kommende Unzufriedenheit mit der Gesellschaft, die nichts als ein „langweiliges“ Leben zu bieten habe, geht in dieser Lesart völlig unter – und damit auch die radikale Kritik der Akteure.

Das Resümee fällt aus Sicht des Rezensenten gemischt aus: Die Beiträge des Sammelbands sind informativ und zeigen europäische Protestkulturen in einer Vielfältigkeit und oftmals auch Verspieltheit, die eng mit kulturellem Protest verbunden war. Dass eine klare Trennung zwischen „Kultur“ und „Politik“ in Hinsicht auf radikale „Politik“ im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht aufrechtzuerhalten ist, wie Timothy Brown in seinem kurzen Schlusswort betont, ist überzeugend, aber nicht unbedingt überraschend. So liefern die einzelnen Beiträge zwar interessante Detaileinsichten, führen jedoch nicht zu grundlegend neuen Erkenntnissen über „subversive Politik in Europa“. Wie bei vielen Sammelbänden ist auch hier festzustellen: Die inhaltliche Klammer, die die verschiedenen Beiträge verbindet, bleibt relativ schwach. Nicht einmal aufgeworfen wird etwa die Frage, ob sich eine gesamteuropäische Geschichte „subversiver Politik“ vor 1989/90 über Systemgrenzen hinweg überhaupt schreiben lässt, oder welchen Stellenwert die politische Zäsur von 1989/90 für das vorliegende Thema besitzt. Zwar wird in der Einleitung kurz darauf verwiesen, dass eine Kontinuität zu den Protestbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre bestehe; worin diese aber genau liegt, wird nicht erläutert.

Anmerkungen:
1 Für Publikationen der Jahre 2005 bis 2011 siehe die Bibliographie mit Rezensionsnachweisen unter <http://www.zeithistorische-forschungen.de/zol/Portals/_zf/documents/pdf/Rezensionen_68er%20PDF.pdf> (29.1.2012) sowie Philipp Gassert, Das kurze „1968“ zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur: Neuere Forschungen zur Protestgeschichte der 1960er-Jahre, 30.4.2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2010-04-001> (29.1.2012).
2 Für neuere Publikationen zur Geschichte der RAF siehe die Hinweise unter <http://www.zeitgeschichte-online.de/site/40208488/default.aspx> (29.1.2012).
3 Siehe Ute Frevert / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main 2005, rezensiert von Gabriele Metzler, in: H-Soz-u-Kult, 20.10.2005 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-064> (29.1.2012).